6 falsche Annahmen zur Prozessaufnahme

Eine Prozessaufnahme, das kann ja nicht so schwer sein!?  

Du kennst die Definition des Prozessbegriffes und weißt, wie man eine Prozessbeschreibung erstellt. Und doch fehlt Dir ganz entscheidendes Erfahrungswissen: wie die Menschen so ticken...  


Ich habe in mehr als 100 Projekten Prozesse aufgenommen und schier Unglaubliches erlebt. Und das mit einer Häufigkeit, die mich irgendwann diese Realität begreifen ließ. In diesem Artikel stelle ich Dir generelle Annahmen zur Prozessufnahme und die beobachtete Praxis vor.

Mit diesem Wissen bist Du hervorragend gewappnet auf das, was auf Dich zukommt!  

Um Prozesse zu optimieren oder automatisieren, müssen wir uns mit unseren Prozessen beschäftigen. Wir visualisieren sie, damit sie für uns begreifbar und bearbeitbar werden.  

Doch schon hier beim allerersten Bearbeitungsfeld sind einige Fallen eingebaut:  

1. Annahme bei der Prozessaufnahme: Jeder kann seinen Arbeitsablauf nachvollziehbar darstellen

Meine Beobachtung:

Was häufig gemacht wird – damit kennt man sich aus. Das ist jedoch nicht gleichbedeutend damit, dass jemand seinen Prozess gut darstellen kann. Dieses Phänomen kannst Du überall erleben, sowohl bei Führungskräften als auch bei langjährigen Mitarbeitenden oder bei frisch von der Uni gekommenen Neulingen.

Meine Erklärung:

Bisher mussten wir unsere Prozesse nicht von Anfang bis Ende nachvollziehen und Schritt für Schritt systematisch darstellen. Viele Führungskräfte, Mitarbeitende und auch Student:innen machen das im Rahmen der Prozessanalyse zum ersten Mal. 


Meine Empfehlung für Deine Prozessaufnahme:

Gehe als Prozessberater:in in die Vorleistung. Erarbeite mit den Mitarbeitenden zusammen die erste Prozessbeschreibung. Führe Interviews pro Prozess mit den durchführenden Mitarbeitenden und formuliere daraus den ersten Entwurf der Prozessbeschreibung. 

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Starte die Prozessanalyse mit dem Wissen, 
wie Du Prozesse identifizierst und abbildest.

2. Annahme bei der Prozessaufnahme: Wir wissen, was unsere Prozesse sind

Meine Beobachtung:

Wenn wir über Prozesse sprechen, dann haben wir unterschiedliche Detaillierungsgrade und Zuschnitte im Kopf. Für die Einen ist der Prozess immer etwas, was End-to-End gedacht wird. Andere sehen eine Folge von einzelnen Arbeitsschritten zur Bearbeitung als Prozess an.  


Meine Erklärung:

Es gibt zahlreiche Definitionen des Prozessbegriffes und viele Varianten, die die Detaillierungsgrade von Prozessen beschreiben. Dazu gibt es noch unterschiedliche Sichtweisen, beispielsweise indem sich ein IT-Mitarbeiter auf den Datenfluss oder die Qualitätsmanagement-Beauftragte auf die qualitätsrelevanten Aspekte konzentriert. 


Meine Empfehlung für Deine Prozessaufnahme:

Alle Betrachtungsformen von Prozessen haben ihre Berechtigung. Im Rahmen Deiner Prozessaufnahme kann sich das jedoch auf eine Abteilung beschränken und nur grob den Ablauf zeigen. Diese ist im Vorfeld zu klären. Am einfachsten geht das mit meinem Prozessmodell. 

3. Annahme bei der Prozessaufnahme: Der typische Prozessablauf wird dargestellt

Meine Beobachtung

Zur Analyse der Prozesse sprichst Du in Interviews oder Workshops mit den Mitarbeitenden. Du willst die Prozessschritte aufnehmen und visualisieren. Und dann merkst Du: Hier wurde nicht der Standardablauf erläutert, hier haben wir über eine Ausnahme gesprochen.


Meine Erklärung

Weil uns Ausnahmen viel Zeit kosten und die emotionalen Ärgerwellen arg durcheinanderwirbeln, merken wir uns solche Vorgänge besser als den schnöden Standard. So passiert es leicht, dass uns just dieser ärgerliche Vorgang einfällt, wenn wir nach einem Beispiel gefragt werden.

Einige merken das in der angespannten Situation einer Prozessaufnahme nicht. Andere merken es und wollen unbedingt und sofort dieses Ärgernis aus der Welt schaffen, ohne dass Dir als Prozessberater:in dieser Sachverhalt klar ist. So kommt es bei der Prozessanalyse häufig zu Missverständnissen, die die Bearbeitungszeit verlängern.


Meine Empfehlung für Deine Prozessaufnahme

Hinterfrage bei Prozessaufnahmen immer, ob Dir der Standardfall oder eine Ausnahme präsentiert wird. Halte Dich an das Pareto Prinzip. Widme Dich bei der Prozessaufnahme dem Standardfall, der zu 80% das Tagesgeschäft bestimmt. Andere, seltener auftretende Fälle können mit dem gesunden Menschenverstand in Anlehnung an den Regelfall abgearbeitet werden. Sie sollten nicht explizit beschrieben werden, wenn es sich nicht um regelungsbedürftige Sonderfälle wie z.B. Evakuierungen handelt. 

4. Annahme bei der Prozessaufnahme: Gleiche Arbeitsplätze haben gleiche Prozesse

Meine Beobachtung:

Laut Stellenbeschreibung haben die Arbeitsplätze in der Abteilung gleiche Aufgaben. So wird häufig angenommen, dass auch der Arbeitsablauf gleich ist und die Prozessaufnahme schnell erledigt ist. 

Im Tagesgeschäft wird die Arbeitsweise der Kolleg:innen nicht hinterfragt. Das Workload ist hoch, und man ist froh, seine Arbeit zu schaffen.  

So habe ich erlebt, dass ein Mitarbeiter eine hilfreiche Exceltabelle entwickelt hatte, die Kolleg:innen aber noch mit Taschenrechner und Tippstreifenmaschine arbeiteten. Oder dass eine Mitarbeiterin eine aufwändige Konstruktionszeichnung vor dem Angebot und der andere eine solche erst nach dem Auftrag angefertigt hat. 


Meine Erklärung:

Viele Mitarbeitende orientieren sich an ihren Chefinnen und Chefs und deren Vorgaben. Was nicht geregelt ist, dafür werden individuelle Lösungen entwickelt. Eine Abstimmung mit Kolleg:innen findet nicht statt, da die Mitarbeitenden denken, es sei unerwünscht. Die Mitarbeitenden wollen der Chefin oder dem Chef das Bild vermitteln, gute Arbeit zu leisten. Punkte mit Abstimmungsbedarf kommen nur auf den Tisch, wenn es unbedingt sein muss. 


Meine Empfehlung für Deine Prozessaufnahme:

Nimm die Prozesse an mehreren Arbeitsplätzen auf. Geh zu verschiedenen Mitarbeitenden und lass Dir 2-3 aktuelle Vorgänge zeigen. So wirst Du die unterschiedlichen Bearbeitungsroutinen kennenlernen. 

5. Annahme bei der Prozessaufnahme: Führungskräfte kennen den Arbeitsablauf ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Meine Beobachtung:

Zu Führungskräften werden häufig erfahrene Mitarbeitende, gut ausgebildete Personen und besonders gute Fachkräfte ernannt. Mit dieser Qualifikation geht die Annahme einher, dass sie sich mit allen Prozessen ihrer Abteilung auskennen.

Führungskräfte haben den Überblick über die Abläufe in ihrer Abteilung. Jedoch nicht so gut, dass sie genau benennen könnten, wie es läuft und wo die neuralgischen Punkte im Prozess sind. 


Meine Erklärung:

Die Führungskraft steuert und kontrolliert das Arbeitsergebnis. In Stellenbeschreibungen und Anweisungen sind Arbeitsinhalte und wichtige Regeln beschrieben, nicht jedoch die detaillierten Abläufe.

Zudem ist die Führungskraft mit vielen anderen Aufgaben betraut. Die Kommunikation mit der nächsthöheren Führungskraft, die Absprachen mit anderen Abteilungen, Problemfälle, Personalbeurteilungen und andere Projekte. 


Meine Empfehlung für Deine Prozessaufnahme:

Wenn es um die Prozesse der operativen Ebene geht, dann nimm am besten Du als Prozessberater:in die Prozessidentifikation mit einem geeigneten Prozessmodell vor.

Wenn Du die Prozessanalyse von den Führungskräften erwartest, handelst Du Dir mehr Arbeit ein. Die Diskussionen erstrecken sich über die Abgrenzung von Prozessen bis hin zu der Tiefe der Prozessaufnahme. 

6. Annahme bei der Prozessaufnahme: Wir verwenden einen Begriff und meinen das Gleiche

Meine Beobachtung:

Du sprichst bei der Prozessaufnahme mit den Mitarbeitenden, um den Arbeitsablauf aufzunehmen. Du achtest darauf, dass Du den Standardfall besprichst – und doch kommst Du im Gespräch nicht weiter. Erst bei genauerem Hinsehen wird klar, dass Du und Dein Gegenüber den gleichen Begriff verwenden, aber unterschiedliche Sachverhalte meinen. 

So habe ich eine Prozessaufnahme in der Abrechnung eines Verkehrsunternehmens gemacht. Jeder Mitarbeitende hatte einen anderen Begriff: Ticket, Rohling, gedrucktes Ticket, Fahrschein. Manche verstanden das Gleiche unter einem Begriff, andere Mitarbeitende der Abteilung etwas anderes. Das führte zu vielen Missverständnissen. 


Meine Erklärung:

Auch hier ist das Phänomen, dass sich die Mitarbeitenden bisher nicht so tiefgehend über ihren Arbeitsablauf ausgetauscht haben. Einige Mitarbeitende haben bemerkt, dass hier Missverständnisse durch den unterschiedlichen Gebrauch der Begriffe auftreten. Jedoch sehen sich die Mitarbeitenden meist nicht in der Verantwortung, dies zu regeln, und die Führungskraft schätzt die Brisanz als gering ein. 


Meine Empfehlung für Deine Prozessaufnahme:

Achte bei der Prozessaufnahme auf dieses Phänomen. Versuche, zügig ein gemeinsames Verständnis des Begriffs zu erarbeiten. Für die Dokumentation eignet sich ein Wiki hervorragend.

Der Begriff mit dem größten Reglungsbedarf ist das Projekt. Unter einem Projekt werden gern die Auftragsabarbeitung, ein Vorhaben und auch ein klassisches Projekt verstanden.  

FAZIT – Empfehlungen für die Prozessaufnahme

Du kennst jetzt die Fallen, die ich am häufigsten in der Praxis beobachtet habe. Prozesse aufnehmen ist leider nicht so einfach, wie es scheint.  

Doch Prozessmanagement muss keine Raketenwissenschaft sein. Man braucht nur den richtigen Zugang zu der Welt der Prozesse: und das ist ein praktikables Prozessmodell - das Giersberg®-Prozessmodell

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